Copyright © Die Welt, 13.9.2000, Seite 43

Erst die Spritze, dann das Verhör

Prozess gegen Stasi-Arzt - Machte er Opfer im Gefängnis bewusst gefügig?

Von Michael Mielke

In der Psychiatrie, so scheint es, ist alles möglich. In der Psychiatrie gab es mal einen Dr.Dr.Bartoldy, der eigentlich Gerd Postel hieß und Briefträger war und dennoch über Jahre hinweg unentdeckt in einem Krankenhaus praktizieren konnte. In der Psychiatrie gibt es auch jenen Herrn Dr.Dr. B. Kein Hochstapler. Er hat die akademischen Grade tatsächlich errungen. Und nebenbei war er militärisch aufgestiegen - bis zum Oberstleutnant der Staatssicherheit. Eine Posten-Verquickung (Arzt-Geheimdienstoffizier), die sich nicht unbedingt ausschließen muss. In diesem konreten Fall soll es jedoch geschehen sein, sagen zumindest Staatsanwalt und Opfer.

Bei Letzteren handelt er sich um das Ehepaar Waltraud und Klaus Krüger, das zu DDR-Zeiten in Magdeburg lebte und schon seit 1973 permanent Ausreiseanträge stellte, bevor es am 31. Mai 1980 inhaftiert worden war. Beide - so ist Stasiakten zu entnehmen - waren nervlich stark angegriffen. Waltraud Krüger hatte in ihrer Verzweiflung sogar gedroht, in einen Hungerstreik zu treten. Beide - Klaus Krüger schon am 1. Juni, seine Frau neun Tage später - landeten im Haftkrankenhaus des berüchtigten Stasigefängnisses Hohenschönhausen. Die Behandlung - ein in seiner Vieldeutbarkeit sehr passendes Wort - übernahm der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.Dr. Horst B.

Der 61-Jährige streitet das auch gar nicht ab. B., gegen den auch Verfahren wegen Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht liefen, will das Ehepaar jedoch korrekt verarztet haben: "Es war eine medizinisch notwendige Behandlung mit geeigneten Medikamenten."

Das ist zu bezweifeln. Wurde das Ehepaar doch parallel tagelang über mehrere Stunden hinweg von Stasi-Vernehmern verhört. Mit Billigung des Arztes - wie Zeugenaussagen und Akten zu entnehmen ist. Man habe ihm vor jeder Vernehmung Spritzen gegeben, erinnerte sich der 61-jährige Klaus Krüger, "ohne irgendwelche Erklärungen". Zudem habe man ihm morgens Tabletten gegeben, nach deren Einnahme er sich "gleichgültig und wie benebelt" gefühlt habe.

Ähnlich misslich sind die Erinnerungen der 54-jährigen Waltraud Krüger: Von einer Einschränkung des Erinnerungsvermögens ist die Rede, von Orientierungslosigkeit; als sie später ihre auf Tonbändern aufgenommen "gelallten" Aussagen hörte, habe sie "die eigene Stimme kaum erkannt". Kurzum: Sowohl Waltraud als auch Klaus Krüger waren bei den Vernehmungen ausgesprochen hilflos. Die Staatsanwaltschaft wirft Dr.Dr.B. nun vor, dem Ehepaar bewusst falsche Medikamente und somit die Gesundheit der Gefängnisinsassen vorsätzlich geschädigt zu haben.

Bestätigt wird diese Anklage von einem medizinischen Sachverständigen, der am Dienstag die protokollierten Therapieversuche des Dr.Dr.B. deutlich kritisierte. So sei von Horst B. bei Klaus Krüger eine reaktive Depression diagnostiziert, ihm anschließend jedoch merkwürdigerweise statt eines Anti-Depressivums eine Kombination aus starken Beruhigungsmitteln verabreicht worden. Noch dazu als Langzeitmedikation, obwohl schon nach 14 Tagen die Gefahr einer Medikamentenabhängigkeit bestanden habe.

Bei Waltraud Krüger hatte der Psychiater in Diensten der Stasi eine Persönlichkeitsstörung festgestellt, ohne Hinweis auf psychotische Elemente. Dennoch hatte er der Frau das nur bei Psychosen anzuwendende Neuroleptikum Leponex injiziert. Erschwerend kommt hinzu, dass Leponex auch im Falle einer Psychose nur anzuwenden war, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Habe es doch starke Nebenwirkungen, "die mehrfach zu Todesfällen führten".

Naheliegendes Fazit: Hier wurde falsch behandelt. Vielleicht unbewusst, im Stile eines Dr.Dr.Bartoldy alias Briefträger Postel. Oder doch sehr bewusst, was zu vermuten ist. In beiden Fällen alarmierend für die aktuellen Patienten. Horst B. führt in Hohenschönhausen noch immer eine Praxis für Neurologie und Psychiatrie. Jetzt als niedergelassener Arzt. Und seine Approbation wird er auch durch dieses Verfahren kaum verlieren.

Prozessfortsetzung am Freitag

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