T4-Umzug am 16. Juni 1995

International Commemoration


Berlin, den 13.6.1995

PRESSEERKLÄRUNG

des Arbeitskreises Psychiatrie-Erfahrener in Berlin und der Irren-Offensive

Aufruf zur Demonstration
am Freitag den 16.6.95 um 13.00 Uhr Tiergartenstr. 4

Nora wehrte sich erfolgreich gegen einen Psychiater an ihrer Wohnungstïr. Der Psychiater wollte sie abholen und in die Psychiatrie bringen.

Den Jahrestag dieses Geschehens wollen wir feiern mit einer Demonstration/Umzug vom T4 Denkmal (Tiergartenstr. 4) zur Charité wo mit Elektroschocks gefoltert wurde.

Durch die Wahl des Ortes wollen wir das Gedenken an die Opfer der Verbrechen der Nazi-Zeit verbinden mit der Freude ïber die erfolgreiche Abwehr von Noras Zwangspsychiatrisierung.

In der Tiergartenstraße 4 wurde die Vernichtung von ïber 250.000 "Ver-rïckten" und "lebensunwerten Lebens" organisiert. Wir meinen, daß dies auch Ergebnis davon war, daß es zu wenig Öffentlichkeit gab, die versuchte, es zu verhindern.

Heutzutage gibt es keine gezielten Vernichtungsaktionen mehr, jedoch werden Ver-rïckte nach wie vor ausgegrenzt und unter massivem Zwang sonderbehandelt.

Unsere Forderungen:

- Elektroschock ist Folter; Verbot von Elektroschocks
- Abschaffung des Psych KG (Psychisch Kranken Gesetz)
- Abschaffung aller psychiatrischen Zwangsbehandlungen
- Entmachtung der Verhaltenspolizei (Sozialpsychiatrischer Dienst)
- Entmachtung der Psychopharmakalobby


Ansprache zum Tag der Antipsychiatrie am T4 Denkmal
veranstaltet vom Arbeitskreis Psychiatrieerfahrener in Berlin und der Irrenoffensive


Umzug vom T4 Denkmal vor der Philharmonie

Zum ersten Mal versammeln wir uns hier, und das hat seinen guten Grund.
Nur zum Gedenken hierher zu kommen hat etwas deprimierendes, aber wir haben auch einen Anlaß zum feiern.
Verdeutlicht dieser Ort doch, mit welch Ohnmacht Psychiatrisierte miterleben mußten, wie normale, angepaßte Deutsche mit mordlïsterner Gewalt ïber sie hergefallen sind. Und vorneweg Psychiater, die von dem unmenschlichen Konstrukt der Naziideologie völlig vereinnahmt waren.
Welch zynischen Beigeschmack bekommt in diesem Zusammenhang der Begriff eines Psychiatrie- Users.
Heute ist vieles anders, aber der Kern der Ausgrenzung und Entrechtung ist geblieben.

Mit den Worten von Kate Millett:
die psychiatrische Diagnose löst eine Welle von Selbstzweifeln und Hoffnungslosigkeit aus.
'Man kämpft, um den persönlichen Verrat zu verzeihen, ebenso wie man schließlich dazu kommen muß, die Kräfte zu analysieren, in deren Fängen man steckte.
Aber es ist wichtig nicht zu vergessen. Erinnern ist Vernunft, aber auch Hoffnung und ein rettendes Vertrauen in die Integrität des Geistes.

Um diese Integrität des Geistes geht es mir, um seine Heiligkeit und Unverletzlichkeit. Natïrlich läßt sich das Elend und der Druck des Lebens nicht leugnen: das Leiden des Geistes unter dem Ansturm der Gefïhle, Umstände, die uns gegeneinander aufbringen, Trennungen und Feindseligkeiten in den menschlichen Beziehungen, Schwärme von Angstzuständen, das Abblocken von Vertrauen, Entscheidungsschwäche und Krisen der Urteils
kraft. Das sind Dinge, die wir ertragen oder an denen wir scheitern, wo wir Rat suchen und sogar das unausweichliche Machtgefälle riskieren, das einer Therapie inne wohnt- sie sind das Wesen und die Substanz der menschlichen Existenz. Wenn solche Umstände zu Symptomen werden und als Krankheit diagnostiziert werden, dann denke ich, begeben wir uns auf schwankenden Boden.

Das gesamte Konstrukt des "medizinischen Modells" psychischer Krankheiten- was ist es mehr als eine Analogie? Zwischen Organmedizin und Psychiatrie: der Geist soll ebenso krankheitsanfällig sein wie der Körper. Aber während es in der Organmedizin nachweisbare physiologische Beweise gibt- zerstörtes oder beeinträchtigtes Gewebe, Bakterien, Entzïndungen, Zeltunregelmäßigkeiten- muß bei der Geisteskrankheit gesellschaftlich vorgeblich unangemessenes Verhalten als Symptom, ja sogar als Beweis fïr Pathologie herhalten. Die Diagnose beruht auf einer impressionistischen Beweislage: Verhalten, Betragen, soziales Auftreten. Solche Beweise werden oft behauptet. Außerdem werden sie von der betroffenen Person häufig nicht einmal wahrgenommen, sie sind vielmehr das Ergebnis der Beobachtung anderer, die die Betroffenen fïr krank erklären.
Bei der "Geisteskrankheit" ist die Person, die eine Behandlung anstrebt, sehr oft nicht die vorgeblich kranke Person, sondern jemand ganz anderer.

Die Gesetze, die die Zwangseinweisung rechtfertigen, (bei uns das Psych. K.G.), sind so verfaßt, daß der betroffenen Person auf Antrag der nächsten Verwandten, bzw. eines Psychiaters oder des sozialpsychiatrischen Dienstes, das Urteilsvermögen ïber ihren eigenen psychischen Zustand aberkannt wird.Ihr Zweck ist es, der vorgeblich kranken Person alle Rechte zu verweigern, die ihr als Bïrgerin oder Bïrger vom Grundgesetz garantiert werden.


Vor die Psychiatrie in der Charité

Ein solches Vorgehen unterscheidet sich von allem, was wir in der Organmedizin kennen, wo die vorherrschende Einstellung von Mitgefïhl und Respekt geprägt ist. Ja, das Psych. K.G., das die Fragen der Psychiatrie regelt, ermöglicht jede nur erdenkliche rechtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit und körperlichen Unversehrtheit. Die betroffene Person ist gewissermaßen angeklagt, die Zwangseinweisung in eine Anstalt stellt eine Art Verhaftung dar, begleitet von Polizeibefugnissen und der Anwendung physischer Gewalt bei der Festnahme ebenso wie während der Haft, wo ein Ausbruch durch Schloß und Riegel verhindert wird und Beihilfe zum Ausbruch strafrechtlich sanktioniert ist.

Da man kein Verbrechen begangen hat, kann man- unter Einfluß von Medikamenten unfähig, dem Verfahren zu folgen, und ohne Rechtsbeistand eigener Wahl- nach einer Anhörung von fïnf Minuten auf unbestimmte Zeit die Freiheit verlieren, manche sogar fïr das ganze Leben. Ohne das Recht, auf die "Behandlung" zu verzichten, ist ein Mensch angesichts solcher Maßnahmen hilflos. Der unfreiwillige Charakter der psychiatrischen Behandlung ist unvereinbar mit dem Geist und der Ethik der Medizin. Die historische Brutalität der Methoden psychiatrischer Behandlung ist wohlbekannt- Ketten und Handschellen. Sie wird heute bei Routinebehandlungen fortgesetzt, wie etwa bei der "Fixierung" (bei der eine Person mit Ledergurten an Arm- und Fußgelenken tagelang an ein Bett gefesselt wird) und bei der Isolationshaft in Einzelzimmern.

Eine solche unfreiwillige Behandlung trägt die Merkmale von Kontrolle oder sogar Bestrafung. Noch schlimmer sind die dämpfenden Effekte der Arzneimittel und schreckliche Einrichtungen, wie die Elektro-schockmaschinerie. Es ist schwer, die Feindseligkeit zu leugnen, die in solchen Behandlungsmethoden steckt, angewendet gegen Menschen, die eingesperrt sind und sich nicht wehren können. Zusammen mit der Schande und dem Stigma, das alle empfinden, der allgemeinen Peinlichkeit und Lächerlichkeit, die dem Zustand des "Irreseins" anhaftet, ist der Vorwand, daß wir es bloß mit einer Krankheit und einem Heilungsprozeß zu tun haben, unhaltbar. Weit offensichtlicher ist die Tatsache der sozialen Kontrolle und der Drohung mit dem Entzug der Menschenrechte und der Anwendung von Zwang.In diesen Zusammenhang ist das Netz des sozialpsychiatrischen Dienstes voll eingebunden. Es bringt den Psychiater mit all seinen Machtmitteln und seinem Gewaltpotential an die Haustïr.

Nora hat sich vor einem Jahr massiv gegen den sturmklingelnden Psychiater gewehrt und hatte Erfolg.Das ist uns der Anlaß hier unseren Weg aus Bevormundung und ohnmächtig erlebter Gewalt zu feiern.
Und ich hoffe wir treffen uns in einem Jahr wieder hier und sind dann vielleicht schon ein paar mehr.

Autor: René Talbot
Gesprochen von Alexander Schulte

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