Literatur psychisch kranker Menschen und Öffentlichkeit

    Durch die öffentlich zugängliche Sammlung von Zeitungen und authentischer Literatur aus der Psychiatrie, durch Koordination und Beratung schreibender Patientlnnen und die Vermittlung von Lesungen und Diskussionen ebenso wie durch die Thematisierung von Literatur aus psychischen Krisensituationen in wissenschaftlichen Zusammenhängen unterstützt die Dokumentationsstelle das Anliegen der Autoren und Autorinnen, mit ihren Texten an die Öffentlichkeit zu treten.  Sowohl im Kulturbetrieb als auch im Gesundheitsbereich kommt den künstlerischen und literarischen Werken psychisch kranker Menschen ein wichtiger Stellenwert zu: als schöpferische Leistung und als Brückenschlag von der Psychiatrie in die Öffentlichkeit.

    Ein besonderer Kristallisationspunkt für kreative Äußerungen von psychisch kranken Menschen war im November 1996 eine Münsteraner Kulturwoche zum Thema "Grenzgänge - Normalität und Irrsinn in Literatur und Künsten".  Die Dokumentationsstelle führte gemeinsam n-üt den kreativtherapeutisch Tätigen in psychiatrischen Kliniken des Landschaftverbandes Westfalen-Lippe und in ambulanten psychosozialen Einrichtungen eine überregional ausstrahlende Ausstellungs- und Veranstaltungsreihe durch.  Das Spektrum reichte von Texten und Gesprächen über Texte, Wort-Bildem und kreativen Workshops, Liederabenden und musikalischen Textinterpretationen bis zu Theaterund Tanzaufführungen sowie Filmen.  Die Innensicht der Betroffenen wurde erweitert durch eine kompetente Außenperspektive.' KünstlerInnen und LiteratInnen des professionellen Kulturbetriebs beschrieben aus ihrer Perspektive, welchen Stellenwert der "Irrsinn" in ihrem Leben einnimmt.  Insgesamt fand unter der Leitung der Dokumentationsstelle ein buntes Festival statt, das viele positive Resonanzen hervoffief.



     

    Dokumentationsstelle Literatur und Psychiatrie

    Kreative Selbstäußerungen von psychisch kranken Menschen (bildende Kunst, Literatur, Theater, Musik, Tanz) haben, wie im Rahmen eines ganzheitlichen Menschen- und Krankheitsbildes deutlich wird, sowohl für die Kranken als auch für die Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert.  Für die Kranken stellen sie die Möglichkeit dar, kreativ (z.B. kunst- oder literaturtherapeutisch) sich selbst auszudrücken, eine Identität zu suchen und durch den Schritt an die Öffentlichkeit die Isolation einer Klinik oder die Verkapselung im eigenen Inneren zu durchbrechen.  Für die Öffentlichkeit ergibt sich die Chance, durch die Betroffenen selbst in deren Innenleben und Situation Einblick zu bekommen, Klischees und Angstgefühle gegenüber dem Phänomen "psychische Krankheit" abzubauen und den Reichtum zu erkennen, der gerade auch in den eigenwilligen und sensiblen Werken von psychisch kranken Menschen (Sclüzophrenen, Autisten, Manisch-Depressiven, geistig Kranken, mißbrauchten Kindern, usw.) vorhanden ist.
    Während hinsichtlich Malerei, Musik, Tanz und handwerklichen Tätigkeiten die Frage ihrer therapeutischen Wirkung und ihres künstlerischen Werts theoretisch fundiert und praktisch erprobt ist - teils durch Kranke und KünstlerInnen selbst (siehe etwa die Kunstsammlungen in Gu@ng, Heidelberg, Lausanne), teils durch TherapeutInnen und Wissenschafuerlrmen im interdisziplinären Zugfiff - existiert eine gleiche Fragestellung fUr Literatur nur in Ansätzen.
    Dieser Beobachtung Rechnung tragend wurde 1994 am "Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik" der Universität Münster eine Dokumentationsstelle Literatur und Psychiatrie eingerichtet.


    PatientInnenzeitungen

    In vielen psychiatrischen Kliniken arbeiten Patienten und Patientinnen in Zeitungsredaktionen, um klinikintem Informationen weiterzugehen und der Öffentlichkeit ihre Erfahrungen mitzuteilen.  Patientli')nenzeitungen sind zugleich Inforrnationsmedium und Forum für literarische Texte, ein Konununikationsorgan untereinander in der Klinik und ein Sprachrohr nach "draußen".  Manche Redaktionen bilden sich auch außerhalb der Kliniken in ambulanten psychosozialen Einrichtungen und SelbsthilfeInitiativen.
    Bundesweit erscheinen derzeit ca. 50 Zeitungen mehr oder weniger regelmäßig.  Die Redaktionen, verfügen in der Regel über geringe finanzielle Mittel und arbeiten mit unterschiedlicher Kontinuität.  Dementsprechend schwanken die Auflagenzahlen und variiert die Ausstattung zwischen professionellem Layout auf Hochglanzpapier und einfach gehefteten Blattsamrnlungen.
    Auf Anregung der Patientlnnenredaktionen bei der Fortbildungstagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll (1991) werden in der Dokumensationsstelle die Zeitungen möglichst vollständig gesammelt und systematisch archiviert.  Die Redaktionen schicken uns regelmäßig ihre neuen Ausgaben, fragen nach weiteren AnsprechpartnerInnen und lassen sich hinsichtlich technischer und inhaltlicher Probleme beraten.
     
     


    Literatur von psychisch kranken Menscben

    In psychischen Krisensituationen wird sehr viel geschrieben, das Geschriebene wird jedoch von Außenstehenden kaum wahrgenommen, geschweige denn produktiv aufgegriffen.  Unsere Bibliographie authentischer Literatur psychisch kranker Menschen umfaßt über 200 Titel. Dabei handelt es sich in erster Linie um Erfahrungsberichte und Tagebuchaufzeichnungen, aber auch um Gedichtsammlungen, Erzählungen und autobiographische Romane.  Die Literatur ist schwer zugänglich, da sie überwiegend mit geringer Auflage in kleinen Verlagen und Selbstverlagen erscheint und dementsprechend schnell vergriffen ist.  In der Dokumentationsstelle wird sie systematisch arcwviert und danüt langfiistig erhalten.  Die Sammlung steht öffentlich zur Verf'ügung.  Schreibende Patientlnnen, denen bislang noch keine Veröffentlichung gelungen ist, erhal ten eine produktiv-kritische Begleitung.  Wir unterstützen ihren Wunsch nach Lesungen und Diskussionen.


    Literatur psychisch kranker Menschen

    in wissenschaftlicher Betrachtung

    Die Zeitungen  und authehtischen Texte aus der Psychiatrie werden gründlich gesichtet und unter verschiedenen Fragestellungen wissenschaftlich.ausgewertet. Ausgewählte Themen (z.B. "Schizophrenie und Dichtkunst", "L'art brut", "Angst in Texten und Bildern, von Kindern", "Wort und Krankheit") finden Eingang in Universitätsseminare zur Lehrer- und Lehrerinnenausbildung.  Es entstehen wissenschaftliche Referate, Haus- und Examensarbeiten.
    Die Dokumentationsstelle führt zudem ein Forschungsvorhaben zur Förderung der Schreib- und Lesetherapie in verschiedenen Bildungsbereichen durch.  Die Bedeutsamkeit der Literatur in psychischen Krisensituationen ist seit jeher in verschiedenen Literaturtheoretischen Konzepten virulent, bleibt aber bislang in der Praxis ungenutzt.  Dies obwohl es zahlreiche Anwendungsgebiete für Schreib- und Lesetherapie gäbe: in erster Linie psychiatrische Kliniken und ambulante psychosoziale Einrichtungen, aber auch weitere Institutionen für Menschen in psychischen Krisensituationen, wie Kinder- und Jugendheime, Alten- und Behindertenheime, Gefängnisse, auch Schulen mit ihrem steigenden Anteil verhaltensauffälliger Kinder.  Diesem Defizit begegnete die Dokumentationsstelle im Verlauf des Jahres 96 mit einer bundesweiten Umfrage unter Menschen, die psychische Krisensituationen erlebt haben und sie schreibend oder lesend zu bewätigen suchten.  Die Resonanz auf die Umfrage war überraschend groß: Über 800 Einsendungen gingen ein, die den Wert des Schreibens und Lesens in psychischen Krisen überzeugend stützten.  Im Anschluß an die Ausschreibung wurde im November 1996 auf einem Münsteraner Symposion interdisziplinär diskutiert, welche Perspektiven für eine Verankerung literaturtherapeutischer Lehrinhalte in geeigneten Studien- bzw.  Aus- und Weiterbildungsgängen für verschiedene Berufsgruppen (z.B. PsychologInnen, ErzieherInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen, -SchriftstellerInnen und andere Kulturschaffende) bestehen könnten.  Die Diskussion wird fortgesetzt und findet Eingang in verschiedene Publikationen.



    Dokumentationsstelle Literatur und Psychiatrie
    Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik
    Philippistr. 17
    48149 Münster
    Tel. 0251/8339316, FAX 8338369
    Inhalt: "Was uns bewegt"