Copyright ©
Tageszeitung "Junge Welt" vom Freitag 15.2. 2002, Seite 4:
|
Kein Maulkorb für Kritiker
Homepage von Berliner Psychiatrieerfahrenen bleibt nach
Amtsgerichtsspruch im Netz
Pointierte Kritik an Gentechnologie wird weiterhin auf der
Homepage des Berliner Landesverbands der Psychiatrieerfahrenen zu lesen
sein. Eine Klage des Direktor des Instituts für Humangenetik und
Mitglied des nationalen Ethikrates, Prof. Peter Propping, war Ende
vergangener Woche vom Berliner Amtsgericht abgewiesen worden. Propping
hatte sich durch die Kritik im Netz beleidigt gefühlt und in die Nähe
des Faschismus gerückt gesehen. Darauf verklagte er René Talbot von den
Psychiatrieerfahrenen wegen Beleidigung.
"Wir
haben Wichtigeres zu tun" begründete vorm Berliner Amtsgericht
Tiergarten ein intellektuell sichtlich überforderter Staatsanwalt
während der Verhandlung seinen Antrag auf Verfahrenseinstellung.
Schon bei der Verlesung der Anklage war er mehrmals ins Stocken gekommen.
Der Richter mußte ihm wissenschaftliche Fachbegriffe soufflieren.
Das Verfahren selbst erinnerte stellenweise an eine
Uni-Vorlesung. Talbot verteidigte den inkriminierten Text im Internet
offensiv und mit wissenschaftlicher Schärfe. Er verlas Auszüge aus dem
Selbstverständnis des Landesverbands der Psychiatrieerfahrenen, wozu
neben dem Eintreten für eine gewaltfreie Psychiatrie auch die
Abschaffung der Zwangsberatung und Zwangsbehandlungen gehöre.
Ausführlich ging er auf die wissenschaftliche Arbeit des Klägers ein.
Propping mache psychische Krankheiten an körperlichen Merkmalen,
Mentales und Verhalten an den Genen fest. So biete er auf
psychiatrischen Kongressen Chromosomen-Workshops an.
Doch nicht nur die theoretische Arbeit von Propping wurde von
Talbot heftig kritisiert. Auf der Suche nach verdächtigen Gene würden
von Propping und seinem Institut Blutproben von Psychiatriepatienten
entnommen. Für die Psychiatrieerfahrenen handelt es sich dabei um einen
Verstoss gegen die Selbstbestimmung der Klinikinsassen. Aus diesem
Grund hatten sie in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Schröder und
Bundespräsident Rau schon vor Monaten vergeblich die Abberufung von
Propping aus dem Ethikrat gefordert.
Talbots Verteidiger Ziegler erklärte in einem kurzen
Plädoyer, dass sich Propping der politischen Kritik der von seinen
Forschungen Betroffenen stellen müsse. Auch er stimmte der Einstellung
des Verfahrens zu. René Talbot hätte zwar lieber einen Freispruch
erreicht, sieht in dem Ergebnis aber einen Erfolg. Zumal Propping schon
vor Monaten im Rahmen eines Zivilprozesses vergeblich gegen die
kritischen Texte im Internet vorgegangen war. Auch damals wurde das
Verfahren eingestellt.